Maximilian-Kolbe-Werk e.V.

„Vergeben, aber nicht vergessen“

Verfolgte des NS-Regimes aus Belarus sprechen mit Schülern in Niedersachsen

30.08.2019     Das Maximilian-Kolbe-Werk hat sechs weißrussische Zeitzeugen zu einem Begegnungsaufenthalt nach Niedersachsen eingeladen. Vom 18. bis 28. August haben die Verfolgten des NS-Regimes Schulen und Einrichtungen in Duderstadt und Göttingen besucht. Begleitet wurden die 78- bis 85-Jährigen von den ehrenamtlich Engagierten unseres Werkes Natalia Gerhard und Herbert Meinl.

Während des Zweiten Weltkriegs waren die Weißrussen im Todeslager Osaritschi interniert, das im Winter 1944 beim Rückzug der deutschen Wehrmacht in einem Sumpfgebiet eingerichtet wurde. Rund 40.000 Zivilisten waren dort schutzlos der Kälte und dem Hunger ausgesetzt.

"Die schlimmste Zeit meines Lebens"

Walentina Schischlo war sieben Jahre alt, als sie ins Lager kam. "Meine Kindheit war schlagartig vorbei," erzählt die heute 83-Jährige beim Treffen mit Schülern in Göttingen.

"Meinen Vater habe ich am 22. Juni 1941 zum letzten Mal gesehen, als Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfiel. Er musste an die Front, kam in Kriegsgefangenschaft und wurde ins KZ Dachau gebracht". Dies habe sie erst nach dem Krieg erfahren.

"Im März 1944 wurde ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern in ушт Viehwaggon geladen. Wohin wir gebracht werden, wussten wir nicht", erzählt Walentina. "Den weiteren Weg von der Eisenbahnstation zum Lager Osaritschi mussten wir zu Fuß zurücklegen, was zwei Tage dauerte."

Auch Maria Akola kann sich an die Zeit im Lager Osaritschi noch genau erinnern: "Ich war damals 10 Jahre alt. Der März war kalt, es gab mal Schnee, mal Schneeregen. In der Nacht fielen die Temperaturen unter null Grad. Auf dem Lagergelände gab es keine Gebäude, keine sanitären Anlagen. Wir mussten unter dem freien Himmel schlafen", erzählt die 85-Jährige aus Minsk. "Das mit Stacheldraht umzäunte Lager wurde von deutschen Soldaten bewacht. Es gab nichts zu essen oder zu trinken. Viele erkrankten an Typhus, der sich schnell verbreitete."

"Die Zeit in Osaritschi war die schlimmste meines Lebens. Ich habe dort drei Brüder verloren. Vergessen werde ich diese Zeit nicht", sagt Walentina Schischlo. "Vergeben habe ich, denn seit 2007 komme ich regelmäßig als Zeitzeugin nach Deutschland, wo ich mittlerweile viele Freunde habe".  

In Deutschland wenig bekannt

"In Deutschland weiß man wenig über die Todeslager wie Osaritschi", stellt der Projektbegleiter Herbert Meinl fest. Letztes Jahr nahm er an der Gedenkveranstaltung zum 74. Befreiungstag des Lagers Osaritschi teil.

"Der Ort des ehemaligen Lagerkomplexes ist ein lichter, heller Kiefern-Birkenwald", sagt er. "Wenn nicht davor ein Beton-Monument hoch aufragen würde, würde nichts auf das Grauen und Sterben von damals hindeuten. Bedeutung erhält dieser Ort erst durch die Menschen, die diese Hölle überlebt haben und die ihre Erinnerung durch Erzählungen weitergeben".

Geschichte erhalten

"Wir sind alt, lange zu leben haben wir nicht mehr. Darum ist es wichtig, hier in Deutschland zu sein und Gespräche zu führen. So bleibt die Geschichte noch lange am Leben", sagen die weißrussischen Gäste über ihre Motivation, als Zeitzeugen aufzutreten. Bei den Zeitzeugengesprächen an Schulen in Göttingen und Moringen wurden rund 150 Schüler, Lehrkräfte und andere Interessierte erreicht.  

 

 

Zeitzeugengespräch an der Kooperativen Gesamtschule (KGS) Moringen, Bildquelle: HNA

Neben den Zeitzeugengesprächen mit Jugendlichen standen auch Besichtigungen und Ausflüge im südlichen Niedersachsen auf dem Programm des zehntägigen Aufenthalts. Zum deutsch-weißrussischen Austausch trugen zudem der Empfang durch den Bürgermeister von Duderstadt Wolfgang Nolte sowie die Begegnung mit dem Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer bei.

Gruppenbild mit Bürgermeister Wolfgang Nolte
Begegnung mit Bischof Dr. Heiner Wilmer
(c) Broermann/Katholische Pressestelle Göttingen

Der Lagerkomplex Osaritschi  

Drei Lager entstanden Anfang März 1944 im Sumpfgebiet um den Ort Osaritschi im südlichen Weißrussland. Die Wehrmacht internierte dort unter freiem Himmel die Angehörigen von nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitern. Die Gefangenen, zumeist Alte, Kranke und Kinder, galten als "nicht arbeitsfähig" und wurden deshalb bewusst dem Hunger- und Kältetod ausgeliefert. Innerhalb von nur einer Woche starben mehr als 9.000 Menschen. Als die Rote Armee am 19. März 1944 die Lager befreite, fand sie neben den Toten 33.480 hungernde und entkräftete Zivilisten, unter ihnen 15.960 Kinder unter 14 Jahren.