Hintergrund
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Die Nahaufnahme

Sich gemeinsam erinnern - in einer internationalen Gruppe, im Austausch mit fünf Zeitzeugen: Bei der "Nahaufnahme in Auschwitz 2016" sind 24 junge Journalisten aus neun verschiedenen Ländern zusammengekommen, um sich dieser Herausforderung zu stellen.


Journalistische Arbeit

Eine einmalige Aufgabe

Von Anfang an waren wir uns der großen Verantwortung bewusst, die im Laufe des Projektes auf uns zukommen würde. Als junge Journalisten haben wir die Aufgabe, ein Sprachrohr für die Zeitzeugen zu sein, ihre Geschichte festzuhalten und anderen zuganglich zu machen. "Fragt uns, wir sind die Letzten", ein Zitat, das wir uns zu Herzen nehmen. Da nicht jeder die Chance zu einem persönlichen Gespräch hat, wollen wir das Gelernte in verschiedenen Artikeln öffentlich machen. Das Besondere an der Arbeit mit den Zeitzeugen ist aber, dass wir nicht nur als Reporter auftreten, sondern auch die wichtige Aufgabe haben, den Interviewten eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, in der es ihnen möglich ist, ihre schlimmen Erlebnisse weiterzugeben. Um uns auf diese Ausnahmesituation vorzubereiten, hat das Maximilian-Kolbe-Werk einen Workshop vorbereitet. Neben einigen Grundlagen zur Vorbereitung und Durchführung der Interviews diskutierten wir auch über verschiedene Fallbeispiele. Ist es ethisch vertretbar, einen Überlebenden in einer emotionalen Situation zu fotografieren? Die Meinungen gingen auseinander. Letztendlich einigten wir uns darauf, dass man dies erst im Kontext der jeweiligen Situation entscheiden kann. Auch das Stichwort Fingerspitzengefühl fiel häufig.

Internationale Begegnung

Russisch, ukrainisch, deutsch, polnisch, englisch, und so weiter. Wer sich in unsere Gruppe begibt, wird einige Sprachen hören. Diese Internationalität erfordert eine enorme Übersetzungsarbeit. Trotz Sprachbarrieren stießen wir auf viel Verständnis. Auch die Zeitzeugen stellten sich, von Kameras und Mikrofonen belagert, tapfer vielen verschiedensprachigen Fragen. Gebete kennen keine sprachlichen Grenzen, ganz nach diesem Motto fand unser Projekt statt.

Gespräche unter Kollegen

Am Abend nach den ersten Interviews trafen wir uns mit Pawel Sawicki, einem der Pressesprecher der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, den wir befragen durften. Fast alles, was man im Zusammenhang mit der Geschichte von Auschwitz veröffentlicht, wird Kontroverse hervorrufen. Umso wichtiger ist es, auf Kontext und Sprache zu achten. Herr Sawicki bat uns, sensibel mit dem Thema umzugehen. "Ihr könnt mit den Worten berühren, aber auch verletzen." Dann erzählte er uns noch von seinen täglichen Aufgaben. Er legt großen Wert darauf, die Internetauftritte der Gedenkstatte frei von negativen Kommentaren zu halten. Von dem Umgang der Besucher mit dem Thema konnte er aber vor allem Positives berichten.

Das Projekt trägt Früchte

Ein wichtiger Bestandteil unseres Projektes ist es, einen Beitrag zu erstellen. Bei insgesamt 24 Nachwuchsjournalisten aus acht verschiedenen Ländern kommt da einiges zusammen. Mit Online, Print, Radio und TV sind alle Medien vertreten, in denen in naher Zukunft unsere fertigen Arbeiten erscheinen werden. Wer das Maximilian-Kolbe-Werk regelmäßig verfolgt, kann schon jetzt erste Artikel sehen. Auch inhaltlich ist eine große Vielfalt vorhanden.

(Lara Zell, Schahrzad Jennifer Schwarz, Sopiko Shubitidze, Fabian Schäfer)


Denkmal der Grausamkeit

Es waren 16 Grad unter Null, als wir uns auf den Weg in das Stammlager machten. Die Führung begann unter dem Torbogen mit der Aufschrift "Arbeit macht frei". Aus dem Konzentrationslager wurde 1942 nach dem Bau von Gaskammern ein Vernichtungslager - die Zeugnisse sind erschütternd. "Die Gegenstände erzählen die Geschichten der Häftlinge", sagt der stellvertretende Museumsdirektor Andrzej Kacorzyk. Jede Beinprothese, jeder Schuh und jede Milchschale an diesem Ort steht für ein Leben. Und einen Mord. Die Haare der Ermordeten, aus denen Textilien gemacht wurden, Koffer, auf denen die Namen der Besitzer stehen, die nicht wussten, dass sie sie niemals zurückkriegen. Neben den historischen Gegenständen gibt es auch Videoinstallationen in der Gedenkstätte. Überlebende des Holocaust erzählen ihre Geschichten, die für uns schwer zu ertragen sind.

Der Besuch des Stammlagers Auschwitz I war der erste Teil des Tagesprogramms. Am Nachmittag besichtigen wir Auschwitz-Birkenau, um die Dimensionen des Lagers zu begreifen, das zum Symbol des Massenmords an den europäischen Juden wurde. Auch wenn die Gräuel der SS im Stammlager schon die Vorstellungskraft der meisten überforderten, wirken die Baracken in Birkenau noch schlimmer. Mit dicken Jacken, Mütze auf dem Kopf, Schal über den Ohren und Handschuhen können wir uns kaum vorstellen, wie Menschen überhaupt eine solche Kälte ertragen konnten.

Im Gedenken an die Millionen ermordeten Häftlinge und die Überlebenden, die so Schlimmes erleiden mussten, hält die Gruppe des Maximilian-Kolbe-Werks am Mahnmal in Auschwitz-Birkenau eine kurze Andacht.

Um alle Eindrücke des Tages zu verarbeiten, treffen wir uns am Abend zum Gespräch in kleinen Gruppen und sprechen über die emotionalsten Momente. Krystyna Oleksy, ehemalige stellvertretende Direktorin des Museums Auschwitz-Birkenau, hat am Mittag gesagt: "Im Lager konnte man alles finden, das Beste und das Schlimmste, die Liebe und den Hass."

Am folgenden Tag besuchen viele das Stammlager noch einmal. Die meisten Teilnehmer versuchen, einen persönlichen Zugang zu diesem Ort finden und gehen allein durch das Stammlager. Am Ort des Geschehens kann man sich ein Bild von der Tragödie machen, von Kälte, Hunger, Erniedrigung, von der Angst. Neben dem Gefängnisblock liegt ein Innenhof, in dem SS-Männer tausende Häftlinge vor einer grauen Mauer erschossen haben. Die aufgehobenen Habseligkeiten, die Fotos und Texte im Museum können kleine Brücken zu den Schicksalen der Menschen bauen - ganz begreifen kann man Auschwitz wohl nie.

Sergey Khomutinnikov, Student an der Lomonossow Universität in Moskau, schreibt am Abend seine Gedanken auf: "Man kann unzählige Bücher lesen, Filme schauen und Erzählungen darüber hören, was in Auschwitz während des Zweiten Weltkriegs geschehen ist. Aber wenn man Auschwitz mit eigenen Augen gesehen hat, lassen einen die schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten nicht mehr los. Heute erlebte ich eine unglaubliche Achterbahn der Gefühle. Da waren Angst, Traurigkeit und die totale Ratlosigkeit darüber, wie grenzenlos Grausamkeit sein kann. Ich empfand Schmerz für diese Menschen, die so waren wie du und ich. Die sich des Lebens freuen wollten, aber zu qualvollem Sterben verurteilt waren. Mir fehlen die Worte und es fällt mir schwer, Gedanken zu fassen. Ich ringe um Luft, wenn ich mein Entsetzen über das heute Gesehene ausdrücken soll. Es ist wohl das Beste zu schweigen. Denn ein Verstehen für ein solches Phänomen liegt jenseits des Vorstellbaren."

Von der Gedenkstätte fährt alle 15 Minuten ein Bus nach Birkenau. Die Gedenkstätte ist ein riesiges Areal, auf dem die Grausamkeit unmittelbar auf die Besucher wirkt. Die Gefangenen lebten nicht in Häusern, sondern in Pferdeställen. Unter dem Dach und am Boden zieht der Wind durch offene Spalten in den Wänden. Abertausende sind an diesem Platz verhungert oder vor Kälte, Krankheiten und Schwäche gestorben. Noch immer sieht man die Rampe und kann an den Gleisen entlang zu dem Ort gehen, an dem die Gaskammern lagen. Krystyna Oleksy arbeitet seit 40 Jahren in der Gedenkstätte: erst war sie Leiterin, heute führt sie Besucher durch das Museum. Sie hat noch immer keine Antwort auf die Frage, wie gewöhnliche Menschen so unvorstellbare Verbrechen begehen konnten. Der Rundgang endet vor dem Mahnmal der Opfer des Holocaust. Wo früher die Krematorien standen, liegen Gedenktafeln. Auf jeder steht in anderer Sprache: "Dieser Ort sei Allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit."

(Nicole Pusch, Daria Malitskaia, Olena Paliiuk, Lena Danner, Roberto Jurkschat, Kyrylo Beskorovainyi. Fotos: Daria Malitskaia) 


Generationen überwinden

Auschwitz. So oft gesehen, so oft gelesen - aber nie besucht und erlebt. Nach 71 Jahren sind wir die dritte Generation - die letzte, die die Zeitzeugen noch treffen kann. Für uns sind das Dritte Reich und die Judenvernichtung ein Mythos - in der Schule bläute man uns ein: Das darf nie wieder geschehen, das war der Abgrund der Menschheit. Und jetzt stehen wir 71 Jahre später vor Alina Dabrowska, Zdzislawa Wlodarczyk, Marian Majerowicz und Jacek Zieliniewicz. Vier Menschen, die die "Hölle" überlebten, wie Dabrowska selbst das Vernichtungslager nannte. Uns überkommt ein beklemmendes Gefühl. Als sie das erste Mal vor uns sitzen, huschen unsere Blicke gehemmt auf ihre Arme, sie sind verdeckt. Sie sind alle über 80 Jahre alt und erobern mit ihrer warmherzigen und lebensbejahenden Art ­unsere Herzen. "Ach, ich würde sie am liebsten in den Arm nehmen", diesen Gedanken haben viele von uns. Gleichzeitig stellen wir uns die Fragen: Finden wir sie nur so großartig, weil sie das Schlimmste erlebt haben? Nein, sie sind nicht deswegen großartig, sondern weil sie tolle Menschen sind. Das durften wir als die letzte Generation persönlich erleben. Danke, dass wir an diesem Ort Freunde geworden sind.

(Pia Dyckmans und Dorothee Soboll)

Jacek Zieliniewicz

"Ich habe keinen Hass und das ist mein Sieg." Mit dieser Aussage beeindruckte der 89-jährige polnische Auschwitz-Überlebende Jacek Zieliniewicz während der Erzählung seiner Erlebnisse in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Dautmergen. Mit 17 Jahren wurde Zieliniewicz als politischer Häftling nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort erlebte er nicht nur Hass und unfassbares Leid, sondern schloss auch viele Freundschaften. "Ohne Freunde überlebt man nicht", nur durch die Hilfe von anderen Mithäftlingen und den engen Zusammenhalt habe er das unmenschliche Leid überstanden, das ihm in den Konzentrationslagern zugefügt wurde. Freunde zu finden und Freunschaften zu pflegen, sei für ihn die wichtigste Möglichkeit in der Zeit nach Auschwitz den Frieden zu erhalten. Er schloss seine Erzählungen mit einem Bild: 80 Millionen Deutschen und 40 Millionen Polen würden nicht alle Freunde werden. Ganze Völker könnten keine Freunde werden. Doch jeder Einzelne von uns könne einen Freund in einem anderen Land finden. "Und mit einem Freund fängt man keinen Krieg an."

(Sofia Dreisbach)

Alina Dabrowska

Die Baracken in Auschwitz waren das Schlimmste für Alina Dabrowska. Nicht, dass ihr vorher die langen Haare abgeschnitten wurden. Sondern die provisorischen hölzernen Baracken, in denen schreiende Frauen im Schmutz auf dreistöckigen Betten lagen. Die ersten Eindrücke aus dem Lager sind der 93 Jahre alten Polin bis heute präsent. Im Juni 1943 wurde sie aus dem Gefängnis Lodz nach Auschwitz gebracht - das angebliche Vergehen: Hochverrat. Dabrowska bekam eine kleine blaue Nummer auf den Arm tätowiert, 44835. "Die nächsten Jahre war das mein Name", erzählt sie den Nachwuchsjournalisten aus Osteuropa und Deutschland, krempelt den Ärmel der Bluse hoch und zeigt die verblichene Nummer auf dem Unterarm. Es ist erstaunlich, wie sie heute mit den erlebten Gräueln umgeht: "Alle Menschen haben gelitten und das war mein Schicksal."

(Sofia Dreisbach)

Zdzislawa Wlodarczyk

Nichts hätte es mir ersetzen können, eine Überlebende zu treffen. Zdzislawas Wlodarczyk Geschichte war deshalb besonders berührend, weil sie Auschwitz in der Kinderbaracke erlebte. Auschwitz mit den Augen eines Kindes zu sehen, zeigt besonders deutlich, wie abgrundtief finster die Grausamkeiten der Nazis waren. Zu wissen, dass Kinderhäftlinge unter den gleichen schrecklichen Bedingungen leben mussten, wie die Erwachsenen, führt vor Augen, wie gefährlich und grausam Hass sein kann. Zdzisława zu treffen, ihre Freundlichkeit und ihre Weisheit 71 Jahre später zu erleben, war ein wichtiger Moment in meinem Leben. Auch mein Redakteur war vom Interview so beeindruckt, dass er es ausnahmsweise sofort veröffentlichte.

Sara Cincurova (übersetzt aus dem Englischen)

Marian Majerowicz

Marian Majerowicz versucht normalerweise, sich nicht daran zu erinnern. "Ich musste das Leben nehmen, wie es war und irgendwie glücklich werden." Und doch erzählt er uns seine Geschichte jetzt mit ruhiger Stimme. Er möchte, dass wir darüber nachdenken, dass es Menschen waren, die das einander angetan haben. Marian Majerowicz ist nach Auschwitz gekommen, weil er Jude ist. Er ist stolz darauf, Jude zu sein und überlebt zu haben. Oft hat er nicht daran geglaubt. Bevor sein Vater in die Gaskammer ging, hat er Marian zum Abschied gesagt: "Dass du nur rauskommst." Nach dem Interview ist ein Satz für Herrn Majerowicz noch sehr wichtig: "Birkenau ist der Friedhof meiner Angehörigen. Es gibt keine anderen Gräber." Daran werden wir morgen denken, wenn wir an der Gedenkfeier teilnehmen. Ich bin dankbar, dass ich dort Menschen an meiner Seite haben werde, die überlebt haben.

(Anne Strotmann)

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