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Begegnungen in Estland

Hausbesuche bei KZ- und Ghettoüberlebenden in Tallinn

16.09.2019     Zum ersten Mal seit über zehn Jahren konnte das Maximilian-Kolbe-Werk wieder Überlebende der NS-Konzentrationslager und Ghettos in Estland besuchen. In der Hauptstadt Tallinn wurden kürzlich 35 KZ- und Holocaust-Überlebende von Dr. Danuta T. Konieczny aus unserer Geschäftsstelle und dem ehrenamtlichen Helfer Dr. Ulrich Sibbing zuhause besucht. Jeder erhielt eine Beihilfe von 300 Euro. Einige Begegnungen wurden dokumentiert.

Die meisten der Besuchten waren während des Zweiten Weltkriegs im Konzentrationslager Klooga interniert. Das KZ Klooga wurde im September 1943 im Norden Estlands, rund 30 km westlich von Tallinn, errichtet. Die Gesamtzahl der Gefangenen im Lager betrug etwa 3.000 Personen, die Mehrzahl waren Juden, die im August und September 1943 aus den Ghettos von Kaunas und Vilnius verschleppt wurden. Darüber hinaus wurden im Winter 1943 viele Zivilisten aus dem Leningrader Gebiet nach Klooga deportiert.  Am 19. September 1944 wurden während der "Evakuierung" des Lagers infolge des Vormarsches der Roten Armee 2000 Lagerhäftlinge hingerichtet.

"Der Krieg hat uns zusammengeschweißt"

Geschwister Ludmila Balan (*1938) und Nikolaj Artamonov (*1941), Überlebende des Konzentrationslagers Klooga

Die Geschwister Ludmila und Nikolaj besuchen wir in der Zweizimmerwohnung von Ludmila. "Sie ist die Älteste von uns drei Geschwistern und unsere Chefin", scherzt Nikolaj. Ihre Schwester Tamara (80), die ebenfalls in Tallinn wohnt, ist krank und kann nicht kommen.

Ludmila erzählt viel und gern. "Wir sind Russen und stammen aus dem Leningrader Gebiet". Ins Konzentrationslager Klooga wurde die Familie Artamonov- die Eltern und vier Kinder - im Winter 1943 deportiert. "Nach dem Krieg wollten wir in unser Heimatdorf zurückkehren, doch unser Haus war zerstört, es gab keine Arbeit. So blieben wir in Estland", erzählt die 81-Jährige.

"Unsere dritte Schwester starb kurz nach dem Krieg, die Eltern mussten schwer arbeiten, denn wir hatten nichts. So haben wir Kinder aufeinander aufgepasst, besonders Ludmila als die Älteste", ergänzt Nikolaj. "Die Kriegserlebnisse haben uns zusammengeschweißt".

Bis heute wohnen die drei Geschwister in der gleichen Stadt, nicht weit voneinander entfernt. Während Nikolaj mit Ehefrau und Tochter wohnt, ist Ludmila allein und braucht Unterstützung, denn sie geht auf Stöcken und kann die Wohnung nur selten verlassen. Ihr Mann ist vor einem Jahr verstorben, die Tochter lebt in Moskau.

"Meine Rente liegt bei rund 500 Euro, was für alleinstehende wie mich wenig ist. Während der Heizperiode geht die Hälfte meiner Monatsrente allein für Mietnebenkosten. Viel bleibt da nicht übrig, " klagt Ludmila. "Mein Bruder unterstützt mich, wo er kann. Dafür bin ich ihm sehr dankbar".

Ludmila Jakovleva freut sich über den Besuch von Dr. Ulrich Sibbing

"Ihre Unterstützung bedeutet für uns eine große Entlastung"

Ludmila Jakovleva (*1938) , Überlebende des Lagers Klooga

"Sie kommen genau zum richtigen Zeitpunkt", sagt Ludmila Jakovleva gleich zur Begrüßung. Ihr Mann ist im Krankenhaus, da er kürzlich eine Operation hatte. "Wir haben uns große Sorgen gemacht, wie wir die hohen Behandlungs- und Medikamentenkosten bezahlen sollen", gesteht sie.

Es ist nicht verwunderlich, denn die Rente der Überlebenden des Lagers Klooga liegt, wie wir im weiteren Gespräch erfahren, bei 480 Euro. Durch die langwierige, schwere Krankheit ihres Mannes hatte die Familie hohe Ausgaben.

"Die Unterstützung des Maximilian-Kolbe-Werks bedeutet für uns eine große Entlastung", freut sich die 81-jährige Ludmila.

"Die Einsamkeit macht mir zu schaffen"

Elena Sergeenko (*1935), Überlebende des Konzentrationslagers Klooga

Die 84-jährige Elena Sergeenko wohnt in einer Doppelhaushälfte am Standrand von Tallinn. Das Haus hat einen kleinen, gut gepflegten Blumengarten und liegt nicht weit vom Meer entfernt. Elena Sergeenko ist verwitwet.

Ihre Tochter Marina, die wir beim Besuch antreffen, wohnt ebenfalls in Tallinn. "Meine Mutter hat Rheuma und kann schlecht gehen, trotzdem kommt sie noch alleine gut zurecht", berichtet Marina. "Ich komme so oft vorbei, wie ich kann, doch da ich berufstätig bin, kann ich tagsüber nicht für sie da sein".

"Wenn ich mich einsam fühle, rufe ich meine Freundinnen an", erzählt Elena Sergeenko. Ihre Freundinnen gehören wie sie dem Estnischen Verein ehemaliger KZ-Häftlinge an. Auch sie waren im KZ Klooga interniert.

Elena Sergeenko ist orthodoxe Christin und praktiziert ihre Religion. "Gestern haben wir in unserer Kirche das Fest der Verklärung gefeiert. Aus diesem Anlass wurden auch diese Äpfel gesegnet, die ich Ihnen schenken möchte", sagte sie zum Abschied. "Möge der liebe Gott Sie, das Maximilian-Kolbe-Werk und alle seine Helfer und Förderer beschützen".

"Ich musste selbst nachforschen, woher ich komme"

Gabriels Joelsons(*1931), Holocaust-Überlebender

"Als die Deutschen im Sommer 1941 in Riga einmarschierten, wurde mein Vater, wie die anderen Juden der Stadt, mitten in der Nacht von der lettischen Polizei abgeholt", sagt der Holocaust-Überlebende Gabriels Joelsons. "Wir sahen ihn nie wieder."

Über seine Familiengeschichte musste der heute 88-Jährige selbst Nachforschungen anstellen. "Meine Mutter wollte über die Vergangenheit nicht reden". Mehrere Jahre hat Joelsons für die Recherche gebraucht. Stolz zeigt er uns das mühevoll gesammelte Material wie Fotos und den selbst erstellten Familienstammbaum.

"Ich wurde in Riga in Lettland geboren. Meine Mutter, eine aus wohlhabender Familie stammende Russin, war viel jünger als mein Vater", erzählt Gabriel und zeigt seinen Familienstammbaum. Gabriel überlebte den Holocaust, weil seine Mutter orthodoxe Christin war und ihn - nachdem der Vater abgeholt wurde - auf den Namen Vladimir taufen ließ.

Nach dem Krieg wurde Gabriels Joelsons Berufsoffizier und kam nach Tallinn, wo er bis heute lebt. Seine Frau ist vor einigen Jahren bei einem Autounfall umgekommen, sein Sohn lebt in den USA. "Ich bin gerührt, dass man sich in Deutschland für mich und mein Schicksal interessiert. Der Holocaust darf nicht in Vergessenheit geraten".

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