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"Zwangsadoption, Todesangst und dennoch kein Hass"

Polnische Zeitzeugen zu Gast in der Wetterau

Von Stephanie Roth

14.10.2022     Wenn Mieczyslaw Grochowski am Ende des Gesprächs seine Trompete nimmt und die traurige Melodie spielt, die das Leid der Kinder von Potulice symbolisiert, machen die Schülerinnen und Schüler erst große Augen - und dann kommen einigen von ihnen auch die Tränen. So bewegend erzählt der 83-jährige Zeitzeuge von seiner Kindheit im besetzten Polen, von Hunger, Krankheit und Angst vor Bestrafung, die er als vierjähriges Kind zusammen mit seiner Familie im sogenannten "Polenlager Potulice" erleben musste.

Mieczyslaw Grochowski (83) hat seine Trompete bei Zeitzeugengesprächen immer dabei.

Die Schüler*innen sind aber gleichermaßen beeindruckt von der Lebensfreude, die Mieczyslaw Grochowski ausstrahlt, von seiner positiven Einstellung, mit der er sein Leben nach dem Krieg gemeistert hat. Seine Mutter habe ihren Kindern beigebracht, dass sie keinen Hass haben sollen auf andere - auch nicht auf die Deutschen. Nach der Pause kommen einige Schülerinnen zu ihm: "Wir mussten in der Pause die ganze Zeit über ihre Mutter nachdenken. Wir finden das toll, dass sie den Hass aus ihrem Leben verbannt hat - obwohl sie so schlimm behandelt wurde von den Deutschen."

Solche Momente verdeutlichen, wie wertvoll und eindrücklich die Begegnungen mit Zeitzeug*innen immer noch sind. Auch wenn es immer weniger Überlebende gibt, die die Reise nach Deutschland auf sich nehmen können - einige sind noch da und kommen gerne ins Bistum Mainz.

Die persönliche Begegnung mit Überlebenden der NS-Diktatur ist durch nichts zu ersetzen.

Nach zwei Jahren Unterbrechung durch die Pandemie konnten vom 03. bis 08. Oktober 2022 wieder zwei Zeitzeug*innen aus Polen in die Region Wetterau reisen. Alodia Witaszek-Napierala (84) aus Bydgoszcz wurde als Kind aus ihrer polnischen Familie geraubt und zur Zwangsadoption in eine deutsche Familie gegeben. Mieczyslaw Grochowski (83) aus Danzig wurde 1943 mit seiner Familie in das Internierungs- und Arbeitslager Lebrechtsdorf-Potulitz verschleppt und bis 1945 dort inhaftiert. Eine dritte Zeitzeugin, Henriette Kretz aus Antwerpen, konnte leider krankheitsbedingt nicht teilnehmen.

Alodia Witaszek-Napierala mit Schüler*innen des Gymnasiums St. Lioba in Bad Nauheim.

Die Zeitzeugen waren vom 3. bis 8. Oktober 2022 im Tagungs- und Bildungszentrum Steinbach/Taunus untergebracht und schilderte an jedem Vormittag Schülerinnen und Schülern ihre Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Begleitet wurden sie von Ehren- und Hauptamtlichen des Bistums Mainz und des Maximilian-Kolbe-Werkes.

An den Gesprächen nahmen 280 Schüler*innen der Ernst-Ludwig-Schule Bad Nauheim, des St. Lioba Gymnasium Bad Nauheim, der Berufsschule Karben und der Berufliche Schule Oberhessen Büdingen teil.

Bei einer Abendveranstaltung in Bad Nauheim schildert Alodia Witaszek-Napierala, wie sie als Kind aus ihrer polnischen Familie geraubt und zur Zwangsadoption in eine deutsche Familie gegeben wurde.

Reges Interesse fand die öffentliche Abendveranstaltung mit Zeitzeugin Alodia Witaszek-Napierała in der Wilhelmskirche Bad Nauheim mit rund 90 Besucher*innen. Eine Vielzahl von katholischen und evangelischen Institutionen sowie Bildungsorganisationen der Region hatte zu dem Abend eingeladen. Im Gespräch mit Stephanie Roth berichtete Frau Witaszek-Napierała, wie grausam es ist, als kleines Kind aus der Familie gerissen zu werden, wie tiefgreifend die Zerstörung der Identität und wie mühsam es ist, danach wieder in ein normales Leben zurückzufinden.

Ausflüge als Ausgleich: Stephanie Roth (Mitte) begleitete mit Grazyna Mühl (hinten links) und Katharina Kalbitz (hinten rechts) die Zeitzeug*innen bei Gesprächen und gestaltete ein Freizeitprogramm.

Bei goldenem Herbstwetter unternahm die Gruppe einige Ausflüge in die Umgebung - ein wichtiger Ausgleich nach den anstrengenden Gesprächen am Vormittag. "Solange wir fit sind und reisen können, kommen wir wieder", verabschiedeten sich die beiden Gäste, als sie nach einer Woche schließlich die Rückreise antraten.

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